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Presseartikel17. Mai 2021BrüsselGeneraldirektion EnergieLesedauer: 6 Min

Im Blickpunkt: Fusionsenergie und das ITER-Projekt

ITER site aerial view
©ITER Organization

Die Energie, die wir heute kennen und nutzen, wird entweder aus fossilen Brennstoffen, Kernenergie oder erneuerbaren Energieträgern erzeugt. Je mehr wir uns im Kampf gegen den Klimawandel in der EU und in der Welt engagieren, desto mehr müssen sauberere Optionen der Energieerzeugung in den Fokus rücken. Dabei steht die Energiewende ganz oben auf der politischen Agenda. Doch Investitionen in erneuerbare Energieträger allein werden möglicherweise nicht ausreichen, um eine stabile, sichere und erschwingliche Energieversorgung zu gewährleisten.

Das ITER-Projekt mit seiner weltweit größten Kernfusionsanlage könnte einen erheblichen Beitrag zur Deckung des künftigen Bedarfs an sauberer Energie leisten.

Was ist Kernfusion?

Die Kernfusion ist eine Kernreaktion, aus der die Sonne und die Sterne ihre Energie beziehen. Sie ist aber auch das größte Wunschziel, wenn es darum geht, saubere Energie technologisch umzusetzen. Bei der Kernfusion werden Atome bei extrem hohen Temperaturen und unter extrem hohem Druck zusammengepresst, was dazu führt, dass sie zu schwereren Atomen verschmelzen. Hierbei werden sehr hohe Energien freigesetzt. Es handelt sich um eine unglaublich dichte Energieform, die sehr hohe Mengen an bestimmten Brennstoffen – und zwar Wasserstoffisotopen – enthält. Von der Kernfusion verspricht man sich deshalb, für Hunderte von Generationen sichere, CO2-freie und praktisch unbegrenzte Energie erzeugen zu können.

Doch wo ist der Haken? Kernfusion lässt sich nur sehr schwer realisieren.

Erstens erfordert die Nachbildung der Kernfusion auf der Erde eine Temperatur von 150 Millionen Grad Celsius (d. h. 10-mal höher als die Temperatur im Kern der Sonne). Zweitens kann nur Deuterium – eines der Wasserstoffisotope – leicht aus Meerwasser gewonnen werden. Die weltweiten Ressourcen an Tritium – dem anderen wichtigen Inhaltsstoff – sind dagegen knapp. Drittens werden riesige Magnete benötigt, um das Plasma (ein Gas, das auf mehrere Millionen Grad Celsius erhitzt wird) in einer vakuumdichten Fusionskammer, dem sogenannten „Tokamak“, eingeschlossen zu halten.

Seit Entdeckung der Kernfusion im letzten Jahrhundert versuchen Wissenschaftler, die Kraft der Kernfusion auf der Erde nachzuvollziehen. Dank erheblicher Investitionen stehen wir nun kurz davor, dies tatsächlich zu schaffen. Es ist zu erwarten, dass es bis zum Ende dieses Jahrzehnts möglich sein wird, mit Kernfusion erzeugte Energie ins Stromnetz einzuspeisen. In 50 Jahren wird künftigen Generationen somit eine sauberere und sicherere Energie zur Verfügung stehen, die zudem das Potenzial hat, den größten Teil des weltweiten Energiebedarfs zu decken.

Geschichte der Kernfusion 

Die hinter der Kernfusion stehende Wissenschaft und Technologie blickt in Europa auf eine lange, spannende Geschichte zurück. Sie begann Anfang des 20. Jahrhunderts, als der britische Physiker Francis William Aston entdeckte, dass Nettoenergie freigesetzt werden kann, indem Wasserstoffatome zu Helium verschmolzen werden.

Die Entwicklung der Fusionsforschung in Europa nahm 1957 an Fahrt auf, als mit der Unterzeichnung des Euratom-Vertrags die Europäische Atomgemeinschaft gegründet wurde.

1977 genehmigte die Europäische Kommission den Tokamak JET (Joint European Torus), der eine bahnbrechende Neuerung in der Fusionsforschung darstellte. Diese Fusionsforschungseinrichtung sollte auf der Grundlage einer Tokamak-Konstruktion den Weg für künftigen Fusionsstrom ebnen. Seit 1983, als JET fertiggestellt und darin das erste Plasma erzeugt wurde, wird nach dem „heiligen Gral“ des Nettoenergiegewinns gesucht, also versucht, mehr Energie aus dem Fusionsprozess zu erzielen, als zur Plasmaerhaltung erforderlich ist.

Der Nachfolger von JET, der Internationale Thermonukleare Versuchsreaktor (ITER) soll genau das erreichen.

Das ITER-Projekt

ITER ist ein einzigartiges Projekt, in dessen Rahmen die weltweit größte Fusionsanlage gebaut werden soll. Durch Innovationsförderung und internationale Zusammenarbeit schafft das Projekt Wirtschaftswachstum und Beschäftigungsmöglichkeiten und hat die EU an die Spitze der globalen Fusionsforschung gebracht. 

Die Bauarbeiten begannen 2007 am Standort Cadarache im Süden Frankreichs auf einem Areal von 42 Hektar, wo sich heute der Tokamak, mehrere Gebäude sowie Infrastruktur und Stromversorgung befinden. Der ITER ist eines der komplexesten Bauprojekte der Geschichte, da für die Montage des riesigen Reaktors mit einem Gewicht von 23 000 Tonnen Millionen von Komponenten benötigt werden.

Das Projekt geht auf das ITER-Übereinkommen zurück, das 2006 von 7 Partnern – China, Euratom (vertreten durch die Europäische Kommission), Indien, Japan, Südkorea, Russland und den USA – unterzeichnet wurde. Gemeinsam leiten sie die ITER-Organisation, die für den Bau und die Verwaltung des Projekts zuständig ist, und bündeln alle finanziellen und wissenschaftlichen Ressourcen. Jeder Partner verfügt über eine inländische Agentur, die seine Beiträge verwaltet. Die Agentur der EU trägt den Namen „Fusion for Energy“ und hat ihren Sitz in Barcelona (Spanien).

Zusätzlich zu den ITER-Tätigkeiten unterstützt die EU über das EUROfusion-Konsortium, das aus dem Euratom-Programm für Forschung und Ausbildung 2021-2025 finanziert wird, auch Forschungs-, Ausbildungs- und Schulungsmaßnahmen im Bereich der Kernfusion.

Die (nahe) Zukunft der Kernfusion

ITER soll 10-mal mehr Fusionsenergie erzeugen, als seine Plasmaheizung verbraucht, und ist damit der wichtigste experimentelle Schritt zwischen den bereits realisierten Forschungsanlagen und den Fusionskraftwerken von morgen.

Das Jahr 2020 markiert mit dem Beginn der 5-jährigen Montagephase des Tokamaks einen Meilenstein. Als nächsten wichtigen Meilenstein soll ITER im Jahr 2025 das erste überhitzte Plasma erzeugen. Bis 2035 dürfte die volle Leistung erreicht sein. Dabei soll nachgewiesen werden, dass es möglich ist, mehr Energie zu erzeugen, als eingespeist wird. 

Auch wenn der ITER selbst keinen Strom erzeugen wird – sondern nachweisen soll, dass Kernfusion in großem Maßstab möglich ist –, ist er ein riesiger Schritt auf dem Weg zur Erzeugung von Fusionsenergie und zugleich Impulsgeber für den Übergang von Forschung zu tatsächlicher Realisierung.

Zusätzlich zu den Fortschritten am europäischen Standort werden die EU und Japan im Laufe dieses Jahres den Fusionsreaktor JT-60SA in Naka (Japan) einweihen. Bis zur Inbetriebnahme des ITER wird er der größte Tokamak sein. Der JT-60SA wurde von Japan und Europa im Rahmen des Abkommens über das „breiter angelegte Konzept“ gemeinsam konstruiert und gebaut. Das Besondere an JT-60SA ist seine Fähigkeit, Langpulsplasmen zu erzeugen. Er soll den Betrieb des ITER (geplant ab 2025) unterstützen und zur Konstruktion des Fusionsreaktors der nächsten Generation (DEMO) der EU beitragen.

DEMO, das „DEMOnstrationskraftwerk“ und Folgeprojekt zu ITER, ist als industrie- und technologieorientiertes Programm zur Erzeugung von Fusionsstrom angelegt. Dies wird wiederum Wege zu einer künftigen Kommerzialisierung der Fusionsenergie eröffnen und möglicherweise ab 2050 zu einem Angebot an billiger, nahezu unbegrenzter CO2-freier Energie führen.

Kernfusion, Arbeitsplätze und die europäische Industrie

Neben der Förderung der Fusionsforschung hat die Beteiligung der EU am ITER-Projekt auch positive Auswirkungen auf die Wirtschaft, insbesondere durch umfangreiche Investitionen in die europäische Industrie.

Von 2008 bis 2019 beliefen sich die europäischen Beiträge zu dem Projekt auf etwas mehr als 5,6 Milliarden an Sach- und Geldleistungen, was sich deutlich und positiv auf die europäische Wirtschaft in Form von Wirtschaftswachstum und mehr Beschäftigungsmöglichkeiten ausgewirkt hat. 

Eine Studie über die Auswirkungen von ITER und anderen Fusionsprojekten im Rahmen des oben genannten parallelen „breiter angelegten Konzepts“ hat gezeigt, dass durch den ITER im Zeitraum 2008-2019 Nettoeffekte in Höhe von 104 Mio. EUR erzielt wurden. Darüber hinaus haben einzelne Unternehmen, die für den ITER Komponenten herstellen und Dienstleistungen erbringen, Berichten zufolge ihre Anlagen ausbauen, ihre Ausrüstung modernisieren und ihr Personal aufstocken können.

In einer weiteren Studie zu ITER und COVID-19 wurden die Auswirkungen der Pandemie sowohl auf den ITER als auch auf die am Projekt beteiligten Unternehmen analysiert. Es zeigte sich, dass zwei Drittel der Unternehmen zwar beeinträchtigt waren, aber fast ein Drittel erklärte, sie seien dank ihrer Beteiligung am ITER widerstandsfähiger gegen die Folgen der Krise.

Im Rahmen des neuen EU-Klimagesetzes hat sich die EU verpflichtet, bis 2050 klimaneutral zu werden. Auf internationaler Ebene gehen andere Länder ähnliche Verpflichtungen ein: Alle sind sich der enormen Herausforderung bewusst. Die Kernfusion kann erheblich zur Erreichung dieses Ziels beitragen, und das ITER-Projekt ist dabei von zentraler Bedeutung, damit diese neue Technologie Wirklichkeit werden kann.

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Einzelheiten

Datum der Veröffentlichung
17. Mai 2021
Autor
Generaldirektion Energie
Ort
Brüssel