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Document 52020XC1001(01)

Mitteilung der Kommission Leitlinien der Kommission zur Anwendung der EU-Vorschriften betreffend die Definition und Bekämpfung der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt 2020/C 323/01

C/2020/6470

OJ C 323, 1.10.2020, p. 1–6 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, HR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

1.10.2020   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 323/1


MITTEILUNG DER KOMMISSION

Leitlinien der Kommission zur Anwendung der EU-Vorschriften betreffend die Definition und Bekämpfung der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt

(2020/C 323/01)

1.   Einführung

Die EU hat eine multidisziplinäre politische Gesamtstrategie gegen die Schleusung von Migranten entwickelt, in deren Rahmen unter anderem der erste EU-Aktionsplan (2015-2020) (1) gegen diese kriminellen Machenschaften ausgearbeitet und umgesetzt wurde. Hauptanliegen ist es, das Geschäftsmodell krimineller Organisationen zu zerschlagen, das das Leben von Migranten und die Sicherheit unserer Gesellschaft gefährdet, und gleichzeitig dafür zu sorgen, dass diejenigen, die Migranten in Not Hilfe leisten, nicht kriminalisiert werden. Dieses Ziel gehört nach wie vor zu den wichtigsten politischen Prioritäten der EU.

Das „Schleuser-Paket“ (2) bildet den Rechtsrahmen, den die EU 2002 eingeführt hat, um den Straftatbestand der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt in der EU zu definieren und entsprechende strafrechtliche Sanktionen festzulegen.

Die Richtlinie 2002/90/EG — die Schleuser-Richtlinie — verpflichtet die Mitgliedstaaten, angemessene Sanktionen für Personen einzuführen, die Drittstaatsangehörigen vorsätzlich und rechtswidrig dabei helfen, in einen EU-Mitgliedstaat einzureisen oder durch dessen Hoheitsgebiet zu reisen, oder die Drittstaatsangehörigen zu Gewinnzwecken vorsätzlich und rechtswidrig dabei helfen, sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufzuhalten.

Gleichzeitig sieht die Richtlinie bei der Definition des Straftatbestands vor, dass die Mitgliedstaaten humanitäre Hilfe vom Straftatbestand ausnehmen können.

2017 nahm die Kommission eine erste umfassende Bewertung (im Folgenden „Bewertung“) des Schleuser-Pakets vor. (3) In der Bewertung wurde auf die Bedenken angesichts einer möglichen Kriminalisierung humanitärer Hilfe eingegangen und insbesondere auf den empfundenen Mangel an Rechtssicherheit und auf das Fehlen einer angemessenen Kommunikation zwischen den Behörden und den vor Ort tätigen Stellen hingewiesen. Die Kommission hielt eine Überarbeitung des Rechtsrahmens zum damaligen Zeitpunkt für nicht notwendig, schlug jedoch einen wirksameren Austausch von Wissen und bewährten Verfahren zwischen Staatsanwälten, Strafverfolgungsbehörden und der Zivilgesellschaft vor, um die praktischen Folgen dieser Schwachstellen anzugehen.

Als Follow-up zu dieser Bewertung leitete die Kommission 2018 regelmäßige Konsultationen mit der Zivilgesellschaft und mit EU-Agenturen, darunter die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) und Eurojust, ein, um den Wissensstand zu verbessern und Fakten zu sammeln, die Aufschluss über die Probleme im Zusammenhang mit der Auslegung und Anwendung der Schleuser-Richtlinie geben. Im Juli 2018 nahm das Europäische Parlament eine Entschließung (4) zu Leitlinien für die Mitgliedstaaten an, um zu verhindern, dass humanitäre Hilfe unter Strafe gestellt wird, und forderte die Kommission auf, „Leitlinien für die Mitgliedstaaten zu erlassen, in denen festgelegt wird, welche Formen der Beihilfe nicht kriminalisiert werden sollten, damit die Umsetzung des geltenden gemeinschaftlichen Besitzstands ... in eindeutiger und einheitlicher Form erfolgt ...“.

Seit 2018 hat sich bei diesen Konsultationen und bei dem Austausch mit Interessenvertretern gezeigt, dass das Umfeld für NRO und Einzelpersonen, die Migranten unterstützen, auch bei Such- und Rettungseinsätzen auf See, immer schwieriger wird. Jüngste Untersuchungen, die die Kommission mit NRO erörtert hat, deuten darauf hin, dass humanitär motivierte Handlungen seit 2015 zunehmend kriminalisiert werden. (5) Die erhobenen Daten bestätigen, dass strafrechtliche Ermittlungen gegen Personen und deren strafrechtliche Verfolgung aus Gründen, die mit dem Straftatbestand der Beihilfe in Zusammenhang stehen, seit 2015 in der EU zugenommen haben. Die Untersuchungen ergaben, dass zwischen 2015 und 2019 in zehn Mitgliedstaaten 60 Ermittlungs- und Strafverfolgungsfälle — vor allem wegen der Beihilfe zur Einreise — anhängig waren. Die meisten Fälle waren 2018 zu verzeichnen. Die Fälle, die im Rahmen dieser Untersuchungen analysiert wurden, betreffen vor allem Freiwillige, Menschenrechtler, Schiffsbesatzungen, die an Such- und Rettungseinsätzen auf See beteiligt sind, aber auch einfache Bürger, Familienmitglieder, Journalisten, Bürgermeister und Vertreter von Glaubensgemeinschaften. Wie in der Bewertung und in der Entschließung des Europäischen Parlaments festgestellt wurde, ist das Fehlen zuverlässiger und vergleichbarer nationaler Kriminalstatistiken nach wie vor ein Problem, insbesondere wenn es um die Beihilfe zu Straftaten im Zusammenhang mit irregulärer Migration geht. (6)

In Anbetracht der Entschließung des Europäischen Parlaments und der Ergebnisse des Konsultationsprozesses ist die Kommission der Ansicht, dass Leitlinien für die Auslegung der Schleuser-Richtlinie erforderlich sind, um den Anwendungsbereich der Richtlinie klarer zu fassen. Diese Leitlinien greifen der Zuständigkeit des Gerichtshofs der Europäischen Union, der für die endgültige Auslegung des EU-Rechts zuständig ist, nicht vor.

2.   Der Rechtsrahmen gegen die Schleusung von Migranten auf internationaler und europäischer Ebene

2.1.   Der völkerrechtliche Rahmen — das Zusatzprotokoll der Vereinten Nationen gegen die Schleusung von Migranten

Das Zusatzprotokoll der Vereinten Nationen gegen die Schleusung von Migranten auf dem Land-, See- und Luftweg zum Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität (7) (im Folgenden „Zusatzprotokoll“) wurde 2000 angenommen und trat 2004 in Kraft. Es ist das erste internationale Rechtsinstrument mit einer gemeinsamen Definition des Begriffs der Migrantenschleusung. Die EU ist dem Zusatzprotokoll 2006 beigetreten, (8) und alle EU-Mitgliedstaaten mit Ausnahme Irlands haben es ratifiziert.

Der in Artikel 3 des Zusatzprotokolls definierte Ausdruck „Schleusung von Migranten“ bezeichnet „die Herbeiführung der illegalen Einreise einer Person in einen Vertragsstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzt oder in dem sie keine Berechtigung zum ständigen Aufenthalt hat, mit dem Ziel, sich unmittelbar oder mittelbar einen finanziellen oder sonstigen materiellen Vorteil zu verschaffen“.

Das Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) beschreibt in seinem Issue Paper von 2017 über das Konzept des finanziellen oder sonstigen materiellen Vorteils im Zusatzprotokoll gegen die Schleusung von Migranten („Concept of ‚Financial or Other Material Benefit‘ in the Smuggling of Migrants Protocol“) (9) einen solchen Vorteil als den eigentlichen Beweggrund für die Schleusung von Migranten, der erkläre, warum sich organisierte kriminelle Gruppen zunehmend an Handlungen beteiligten, die das Leben schutzbedürftiger Migranten häufig erheblich gefährdeten („the reason behind the growing involvement of organized criminal groups in conduct that often puts the lives of vulnerable migrants in great jeopardy“). Das UNODC stellt fest, dass die mit der Schleusung von Migranten verbundenen finanziellen oder sonstigen materiellen Vorteile einen Handel befeuern, der menschliches Leid und das Ertragen aller Widrigkeiten in enorme, ohne Skrupel erzielte Profite verwandelt („[t]he financial or other material benefits associated with migrant smuggling are fuelling a trade that turns human suffering and resilience against unfair odds, into enormous and unscrupulously procured profits“). (10) Weiter heißt es in dem Papier, dass die nicht finanziell motivierte Beihilfe zur illegalen Einreise als Handlung einzustufen sei, die nicht in den Anwendungsbereich des Zusatzprotokolls falle. (11)

Das UNODC kommt zu dem Schluss, dass das Zusatzprotokoll, selbst wenn es Staaten nicht daran hindert, Straftatbestände außerhalb seines Anwendungsbereichs — beispielsweise die Beihilfe zur illegalen Einreise oder zum illegalen Aufenthalt — zu begründen, nicht auf die Verfolgung humanitärer Akteure abzielt und auch nicht als Rechtsgrundlage dafür herangezogen werden kann. (12) Das Büro erinnert daran, dass in dem Implementierungsleitfaden für das Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität und seine Zusatzprotokolle („Legislative Guides for the Implementation of the United Nations Convention against Transnational Organized Crime and the Protocols“) (13) hierzu ausgeführt wird, dass der Verweis auf einen finanziellen oder sonstigen materiellen Vorteil in der Tat darauf abzielte, Gruppen mit rein politischen oder sozialen Beweggründen vom Anwendungsbereich auszunehmen („the reference to ‚financial or other material benefit‘ was indeed intended to exclude groups with purely political or social motives“). Auf dieser Grundlage fordert das UNODC die Länder nachdrücklich auf, Vorkehrungen zu treffen, um zu gewährleisten, dass Glaubensgemeinschaften, die Zivilgesellschaft und Einzelpersonen, deren Handeln auf keinerlei finanziellen oder sonstigen materiellen Vorteil gerichtet ist, von Schleusungstatbeständen ausgenommen werden, wobei allerdings sicherzustellen ist, dass diese Ausnahme nicht dazu genutzt werden kann, um der Justiz zu entgehen. (14)

2.2.   Der EU-Rechtsrahmen — das Schleuser-Paket

Die Schleusung von Migranten geht immer häufiger mit schweren Menschenrechtsverletzungen und dem Verlust von Menschenleben einher, insbesondere bei der Schleusung auf dem Seeweg. (15) Die Beihilfe zur irregulären Migration geschieht auf verschiedene Art und Weise:

Tatsächliche Beförderung oder Organisation der Beförderung von Personen, die nicht berechtigt sind, in ein Land, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, einzureisen oder es zu durchqueren;

Herstellung und/oder Bereitstellung gefälschter Dokumente;

Arrangieren von Scheinehen.

Diese Aktivitäten werden von kriminellen Netzen oder Einzelpersonen durchgeführt und werfen beträchtliche Profite ab. Hinzu kommt, dass sich aus der Zunahme irregulärer Migranten, die die EU erreichen, nicht nur die Nachfrage nach Hilfe bei der Einreise, sondern auch nach Hilfe beim irregulären Aufenthalt speist. Die Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und (wenn sie zu Gewinnzwecken erfolgt) zum unerlaubten Aufenthalt gilt dem Schleuser-Paket zufolge als Straftatbestand.

Allgemein ist das Schleuser-Paket, das die Beihilfe zum unerlaubten Grenzübertritt unter Strafe stellt, als Beitrag dazu gedacht, die irreguläre Migration einzudämmen und gegen die organisierte Kriminalität vorzugehen, die das Leben von Migranten gefährdet. Gemäß Artikel 1 Absatz 1 der Schleuser-Richtlinie muss jede Person, die einem Drittstaatsangehörigen vorsätzlich dabei hilft, unter Verletzung des Einwanderungsrechts in die EU einzureisen, durch die EU zu reisen oder sich in der EU aufzuhalten (letzteres, wenn die Beihilfe zu Gewinnzwecken erfolgt), Sanktionen gewärtigen.

Wie in der Bewertung ausgeführt, stimmen das Zusatzprotokoll und das Schleuser-Paket trotz einiger Unterschiede nach wie vor überein. (16) In der Bewertung wird darauf hingewiesen, dass sowohl die EU als auch ihre Mitgliedstaaten als Vertragsparteien des Zusatzprotokolls verpflichtet sind, dieses Protokoll auch beim Erlass oder bei der Umsetzung von Rechtsvorschriften in seinem Anwendungsbereich anzuwenden, und dass das Protokoll die Position der EU, die Schleusung von Migranten als Form der organisierten Kriminalität aufzufassen, gestärkt hat.

Der Schleusungstatbestand in Artikel 1 Absatz 1 der Schleuser-Richtlinie ist in der Tat weiter gefasst als im Zusatzprotokoll, da der Gewinnzweck in der Richtlinie kein Tatbestandsmerkmal der Beihilfe zur unerlaubten Ein- oder Durchreise ist. Der Gewinnzweck ist zusammen mit der Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung und der Gefährdung des Lebens der Personen, gegen die sich die Straftat richtet, als erschwerender Umstand in Artikel 1 Absatz 3 des Rahmenbeschlusses 2002/946/JI aufgeführt.

In Artikel 1 Absatz 2 der Richtlinie ist jedoch die Möglichkeit vorgesehen, die Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise nicht unter Strafe zu stellen, wenn sie im Rahmen der humanitären Unterstützung erfolgt. Jeder Mitgliedstaat kann danach beschließen, „wegen der in Absatz 1 Buchstabe a) beschriebenen Handlungen in Anwendung seiner innerstaatlichen Rechtsvorschriften und Rechtspraktiken keine Sanktionen zu verhängen, wenn das Ziel der Handlungen die humanitäre Unterstützung der betroffenen Person ist“.

Abgesehen von Verweisen auf allgemeine strafrechtliche Bestimmungen, z. B. in Bezug auf Handlungen zur Abwehr einer gefährlichen Situation (17), sehen nur acht Mitgliedstaaten (18) in ihrem nationalen Recht für die humanitär motivierte Beihilfe zur unerlaubten Ein- und/oder Durchreise Straffreiheit vor. Eine Prüfung der Rechtsvorschriften dieser Mitgliedstaaten zeigt, dass die Richtlinie in diesen Staaten unter Berücksichtigung des jeweiligen Rechtskontextes unterschiedlich ausgelegt worden ist.

Belgien und Spanien haben den Wortlaut der Richtlinie zum Strafausschlussgrund der humanitären Hilfe nahezu wörtlich übernommen, während sich andere Mitgliedstaaten für eine andere Vorgehensweise entschieden haben.

Kroatien hat konkrete Strafausschlussgründe festgelegt:

für Beihilfe zur Einreise — um Leben zu retten, Körperschäden zu verhindern, medizinische Soforthilfe und humanitäre Hilfe nach Maßgabe spezialrechtlicher Bestimmungen zu leisten — und

für Beihilfe zum Aufenthalt — aus humanitären Gründen ohne die Absicht, Maßnahmen zur Sicherstellung der Rückkehr zu verhindern oder aufzuschieben.

In Griechenland werden Kapitäne, Schiffs- und Luftfahrzeugführer sowie Fahrer von Beförderungsmitteln jedweder Art nicht belangt, wenn sie im Einklang mit internationalem Recht Hilfe leisten und eine Person auf See retten oder eine Person befördern, die internationalen Schutz benötigt.

Italien hat in Anlehnung an Artikel 54 des italienischen Strafgesetzbuchs eine Generalklausel aufgenommen, nach der folgende Handlungen nicht unter Strafe gestellt werden:

Handlungen mit dem Ziel, einen schweren Schaden von den beteiligten Personen abzuwenden;

Rettung von Ausländern, die sich im italienischen Hoheitsgebiet befinden, und/oder Leistung humanitärer Hilfe für diese Personen.

Finnland berücksichtigt die humanitären Beweggründe einer Person oder ihre Beweggründe in Bezug auf enge familiäre Bindungen sowie die Sicherheitslage der ausländischen Person im Heimat- oder Wohnsitzstaat.

In Frankreich wurden nach einem Urteil des Verfassungsrats (19) und einer späteren Änderung der einschlägigen Bestimmungen Angehörige und Personen, die Rechtsberatung, sprachliche oder soziale Unterstützung oder Hilfe aller Art aus rein humanitären Gründen anbieten, vom Straftatbestand der Beihilfe zur Durchreise oder zum Aufenthalt ausgenommen, nicht aber von der Beihilfe zur Einreise.

Wenn in Malta eine Person jemandem, der in unmittelbarer Gefahr ist, dabei hilft, maltesischen Boden zu betreten oder durch Malta durchzureisen, besteht die Möglichkeit, von einem Verfahren abzusehen, wenn solche Handlungen aus humanitären Gründen erfolgt sind. (20)

Die Entscheidung, ob eine Handlung im Einzelfall unter eine im nationalen Recht vorgesehene Ausnahme fällt, obliegt den Justizbehörden, die einen gerechten Ausgleich zwischen den verschiedenen Interessen und Werten herstellen müssen. (21)

3.   Anwendungsbereich von Artikel 1 der Schleuser-Richtlinie

In Anbetracht des allgemeinen Sinns und Zwecks der Schleuser-Richtlinie ist klar, dass sie nicht als Möglichkeit verstanden werden kann, humanitäre Tätigkeiten, die gesetzlich vorgeschrieben sind, wie Such- und Rettungseinsätze auf See, ungeachtet der Art und Weise, wie die Richtlinie nach nationalem Recht angewandt wird, unter Strafe zu stellen.

Nach internationalem Seerecht sind die Staaten verpflichtet, Schiffsführern unter ihrer Flagge vorzuschreiben, Personen oder Schiffen in Seenot Hilfe zu leisten, sofern sie dies ohne ernste Gefahr für ihr Schiff, die Besatzung oder die Fahrgäste tun können. Dieser Grundsatz ist verankert im:

Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (22)

Internationalen Übereinkommen von 1974 zum Schutz des menschlichen Lebens auf See (SOLAS) (23)

Internationalen Übereinkommen über den Such- und Rettungsdienst auf See (24) (SAR).

Darüber hinaus umfasst der geltende Rechtsrahmen Verträge im Zusammenhang mit dem Seeverkehr und Entschließungen der Internationalen Seeschifffahrtsorganisation (IMO) (25).

Zudem wird die Pflicht der Länder, Kapitäne zu verpflichten, Personen, Schiffen oder Luftfahrzeugen in Seenot Hilfe zu leisten, als Grundsatz des Völkergewohnheitsrechts anerkannt. Sie ist daher für alle Länder verbindlich.

Jeder, der an Such- und Rettungseinsätzen beteiligt ist, muss bei einem konkreten Such- und Rettungseinsatz den Anweisungen der koordinierenden Behörde nach Maßgabe der im Bereich der Menschenrechte und des internationalen Seerechts geltenden allgemeinen Grundsätze und Regeln folgen. Die Kriminalisierung von NRO oder anderen nichtstaatlichen Akteuren, die Such- und Rettungseinsätze auf See durchführen und dabei die einschlägigen Vorschriften einhalten, stellt einen Verstoß gegen das Völkerrecht dar und ist daher nach EU-Recht nicht zulässig.

Wenn somit Artikel 1 der Schleuser-Richtlinie die Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise unter Strafe stellt, den Mitgliedstaaten gleichzeitig jedoch die Möglichkeit einräumt, keine Sanktionen zu verhängen, wenn der Zweck der Tätigkeit darin besteht, humanitäre Hilfe zu leisten, meint er damit nicht die gesetzlich vorgeschriebene humanitäre Hilfe, da diese nicht unter Strafe gestellt werden kann.

4.   Hinweis

Nach alledem ist die Kommission der Auffassung, dass Artikel 1 der Schleuser-Richtlinie wie folgt auszulegen ist:

i)

Die gesetzlich vorgeschriebene humanitäre Hilfe kann und darf nicht unter Strafe gestellt werden.

ii)

Ferner stellt die Kriminalisierung von NRO oder anderen nichtstaatlichen Akteuren, die Such- und Rettungseinsätze auf See durchführen und dabei die einschlägigen Vorschriften einhalten, einen Verstoß gegen das Völkerrecht dar und ist daher nach EU-Recht ebenfalls nicht zulässig.

iii)

Gegebenenfalls sollte im Einzelfall unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände geprüft werden, ob eine Handlung unter den Begriff „humanitäre Unterstützung“ in Artikel 1 Absatz 2 der Richtlinie fällt. Dieser Begriff kann nicht dahin ausgelegt werden, dass es möglich ist, eine gesetzlich vorgeschriebene Handlung unter Strafe zu stellen.

5.   Empfehlung

NRO und Einzelpersonen in der EU, die humanitäre Hilfe für Migranten leisten, haben in den letzten Jahren wachsende Besorgnis geäußert. (26) Bei Rettungseinsätzen auf See sowie bei der Unterstützung von Migranten, die an den Grenzen oder im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats unterwegs sind, kommt es Berichten zufolge zu Spannungen zwischen nationalen oder lokalen Behörden und Rettungskräften und Freiwilligen, die unbotmäßigen Druck vonseiten der Behörden und Sanktionen fürchten. (27)

In seiner Entschließung (28) forderte das Europäische Parlament die Mitgliedstaaten auf, „die in der Beihilfe-Richtlinie vorgesehene Ausnahmeregelung für humanitäre Hilfe in nationales Recht umzusetzen“.

Unter Hinweis darauf, dass das EU-Recht nicht beabsichtigt, humanitäre Hilfe unter Strafe zu stellen, hat sich die Kommission einen Überblick über die Entwicklung der Rechtslage seit der REFIT-Bewertung des Schleuser-Pakets verschafft. Vor diesem Hintergrund fordert die Kommission die Mitgliedstaaten, die dies noch nicht getan haben, auf, von der in Artikel 1 Absatz 2 der Schleuser-Richtlinie vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch zu machen, wonach sie zwischen Handlungen mit dem Ziel der humanitären Unterstützung und Handlungen mit dem Ziel der Beihilfe zur unerlaubten Einreise oder Durchreise unterscheiden und erstere von der Kriminalisierung ausnehmen können.

.


(1)  COM(2015) 285 final vom 27.5.2015.

(2)  Richtlinie 2002/90/EG des Rates vom 28. November 2002 zur Definition der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt (ABl. L 328 vom 5.12.2002, S. 17) und Rahmenbeschluss 2002/946/JI des Rates vom 28. November 2002 betreffend die Verstärkung des strafrechtlichen Rahmens für die Bekämpfung der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt (ABl. L 328 vom 5.12.2002, S. 1.). Diese Regelungen wurden gemeinsam erlassen und werden gemeinhin als „Schleuser-Paket“ bezeichnet.

(3)  REFIT Evaluation of the EU legal framework against facilitation of unauthorised entry, transit and residence: The Facilitators Package (Directive 2002/90/EC and Framework Decision 2002/946/JHA), (SWD(2017) 117 final (Englisch)). Zusammenfassung in deutscher Sprache: REFIT-Bewertung des Rechtsrahmens der EU zur Bekämpfung der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt (Richtlinie 2002/90/EG und Rahmenbeschluss 2002/946/JI), SWD(2017) 120 final.

(4)  2018/2769(RSP).

(5)  Lina Vosyliūtė und Carmine Conte, „Crackdown on NGOs and volunteers helping refugees and other migrants“, Research Social Platform on Migration and Asylum (ReSOMA), Final Synthetic Report, Juni 2019, S. 32. Durchgeführt wurde die Untersuchung von der Migration Policy Group im Rahmen des kooperativen, partizipativen Ansatzes der Forschungsplattform ReSOMA unter Beteiligung von Experten aus NRO, Forschern und anderen Interessenvertretern. Grundlage für die Untersuchung waren Fallbeobachtungen, die bereits von Open Democracy und dem Institute of Race Relations durchgeführt worden waren, sowie die aktualisierte Studie des Zentrums für Europäische Politische Studien (CEPS) zur Schleuser-Richtlinie aus dem Jahr 2018. Das ReSOMA-Projekt wurde aus dem EU-Forschungs- und Innovationsprogramm Horizont 2020 finanziert.

(6)  Im Anschluss an die Bewertung sammelte Eurostat im Rahmen einer Piloterhebung für die Bezugsjahre 2015, 2016 und 2017 Daten aus den Mitgliedstaaten über Schleusungsdelikte. Die Daten für das Bezugsjahr 2018 waren Teil des jährlichen Fragebogens von Eurostat zur Erhebung von Kriminalstatistiken der Mitgliedstaaten.

(7)  https://www.unodc.org/documents/middleeastandnorthafrica/smuggling-migrants/SoM_Protocol_English.pdf

(8)  Vgl. i) Beschluss 2006/616/EG des Rates vom 24. Juli 2006 über den Abschluss — im Namen der Europäischen Gemeinschaft — des Zusatzprotokolls gegen die Schleusung von Migranten auf dem Land-, See- und Luftweg zum Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität in Bezug auf diejenigen Bestimmungen des Zusatzprotokolls, die in den Anwendungsbereich der Artikel 179 und 181a des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft fallen (ABl. L 262 vom 22.9.2006, S. 24), und ii) Beschluss 2006/617/EG des Rates vom 24. Juli 2006 über den Abschluss — im Namen der Europäischen Gemeinschaft — des Zusatzprotokolls gegen die Schleusung von Migranten auf dem Land-, See- und Luftweg zum Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität in Bezug auf diejenigen Bestimmungen des Zusatzprotokolls, die in den Anwendungsbereich von Titel IV des Dritten Teils des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft fallen (ABl. L 262 vom 22.9.2006, S. 34).

(9)  https://www.unodc.org/documents/human-trafficking/Migrant-Smuggling/Issue-Papers/UNODC_Issue_Paper_The_Profit_Element_in_the_Smuggling_of_Migrants_Protocol.pdf

(10)  Vorwort, iii.

(11)  Siehe Fußnote 9.

(12)  Siehe Fußnote 9, UNODC-Papier, S. 14. Das UNODC erinnert auch daran, dass den Travaux Préparatoires zufolge die Absicht der Verfasser darin bestand, die Tätigkeiten von Personen auszunehmen, die Migranten aus humanitären Gründen oder aufgrund enger familiärer Bindungen unterstützt haben. In der erläuternden Anmerkung zu der betreffenden Bestimmung heißt es, dass nicht intendiert gewesen sei, die Tätigkeiten von Familienangehörigen oder Unterstützungsgruppen wie religiösen oder nichtstaatlichen Organisationen unter Strafe zu stellen („it was not the intention of the Protocol to criminalize the activities of family members or support groups such as religious or non-governmental organizations“).

(13)  UNODC, Legislative Guides for the Implementation of the United Nations Convention against Transnational Organised Crime and the Protocoles thereto, UN Sales No E.05.V.2 (2004), S. 13, Rn. 26.

(14)  Siehe Fußnote 13, Implementierungsleitfaden, S. 71.

(15)  REFIT-Bewertung des Rechtsrahmens der EU zur Bekämpfung der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt, S. 4.

(16)  Siehe Fußnote 15, REFIT-Bewertung, S. 31.

(17)  Siehe Studie der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte, Criminalisation of migrants in an irregular situation and of persons engaging with them (Kriminalisierung von Migranten, die sich unrechtmäßig in der Union aufhalten, und von Personen, die sie unterstützen), 2014, S. 10.

(18)  Belgien, Griechenland, Spanien, Finnland, Frankreich, Kroatien, Italien und Malta. Siehe REFIT-Bewertung des Rechtsrahmens der EU zur Bekämpfung der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt, S. 15, sowie Artikel L622-4 des französischen Ausländergesetzes in der durch das Gesetz Nr. 2018-778 vom 10. September 2018 geänderten Fassung und Artikel 43 Absatz 2 Nummer 2 des kroatischen Ausländergesetzes in der Fassung von 2017.

(19)  In seiner Entscheidung Nr. 2018-717/718 QPC vom 6. Juli 2018 entschied der französische Verfassungsrat, dass sich die Möglichkeit, Menschen aus humanitären Gründen zu unterstützen, aus dem Verfassungsgrundsatz der Brüderlichkeit ergebe, unabhängig von dem rechtlichen Status dieser Menschen im Land. Außerdem könne die nationale Regelung, die bestimmte Verhaltensweisen vom Straftatbestand ausnehme, nur so ausgelegt werden, dass sie auch für jede andere Art von Unterstützung gelte, die aus humanitären Gründen gewährt werde. Die Beihilfe zur Einreise wurde allerdings nicht ausgenommen, da diese anders als die Beihilfe zur Durchreise zwangsläufig eine rechtswidrige Situation mit sich bringe.

(20)  REFIT-Bewertung des Rechtsrahmens der EU zur Bekämpfung der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt, S. 14-15.

(21)  Zu der Notwendigkeit eines gerechten Interessenausgleichs zwischen der Wahrung der öffentlichen Ordnung und der Verhinderung von Straftaten einerseits und dem humanitären Zweck der Tat andererseits vgl. z. B. das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 10.11.2011, Nr. 29681/08, Mallah gegen Frankreich, unter Bezugnahme auf Artikel L. 622-1 des französischen Gesetzbuchs über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern und das Recht auf Asyl sowie Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention.

(22)  https://www.un.org/Depts/los/convention_agreements/texts/unclos/unclos_e.pdf

(23)  http://www.imo.org/en/About/Conventions/ListOfConventions/Pages/International-Convention-for-the-Safety-of-Life-at-Sea-(SOLAS),-1974.aspx

Das SOLAS-Übereinkommen (Kapitel V — Sicherung der Seefahrt) verpflichtet den Kapitän eines auf See befindlichen und zur Hilfeleistung fähigen Schiffes, der von irgendeiner Seite eine Meldung erhält, dass Personen sich in Seenot befinden, ihnen mit größter Geschwindigkeit zu Hilfe zu eilen. Diese Pflicht zur Hilfeleistung gilt unabhängig von der Staatsangehörigkeit oder Rechtsstellung dieser Personen oder den Umständen, unter denen sie angetroffen werden. Ist das Schiff, das den Seenotalarm erhält, zur Hilfeleistung außer Stande oder hält sein Kapitän diese aufgrund besonderer Umstände für unzweckmäßig oder unnötig, so muss er den Grund für die Unterlassung einer derartigen Hilfeleistung in das Schiffstagebuch eintragen und unter Berücksichtigung der Empfehlungen der Organisation den betreffenden Such- und Rettungsdienst entsprechend unterrichten. Das Übereinkommen verpflichtet die Vertragsregierungen zur Koordinierung und Zusammenarbeit, um den Kapitän dabei zu unterstützen, die aus Seenot geretteten Personen an einen sicheren Ort zu bringen. Auch darf weder der Reeder, der Charterer, das Unternehmen, das das Schiff betreibt, noch irgendeine andere Person den Kapitän des Schiffes daran hindern, eine Entscheidung zu treffen oder auszuführen, die nach dem fachlichen Urteil des Kapitäns für eine sichere Schiffsführung und den Schutz des menschlichen Lebens auf See erforderlich ist; der Kapitän darf in seiner diesbezüglichen Entscheidungsfreiheit nicht eingeschränkt werden.

(24)  http://www.imo.org/en/About/Conventions/ListOfConventions/Pages/International-Convention-on-Maritime-Search-and-Rescue-(SAR).aspx

Das SAR-Übereinkommen (Anlage) verpflichtet die Vertragsparteien, den Schiffsführer dabei zu unterstützen, die auf See geretteten Personen an einen sicheren Ort zu bringen, und schreibt vor, dass die Zentren für die Koordinierung von Rettungsmaßnahmen über geeignete Verfahren verfügen müssen, um die am besten geeigneten Orte für die Ausschiffung von Menschen, die aus Seenot gerettet wurden, zu ermitteln.

(25)  In seiner 78. Sitzung nahm der IMO-Schiffssicherheitsausschuss (MSC 78, 2004) wichtige Änderungen an Kapitel V des SOLAS-Übereinkommens und an den Kapiteln 2, 3 und 4 der Anlage zum SAR-Übereinkommen an. Die Änderungen traten am 1. Juli 2006 in Kraft. In derselben Sitzung nahm der MSC operative Richtlinien an. Mit den Änderungen und den Richtlinien soll sichergestellt werden, dass Personen in Seenot Hilfe geleistet wird, während die Unannehmlichkeiten für die Hilfe leistenden Schiffe auf ein Mindestmaß beschränkt und die fortgesetzte Integrität der Such- und Rettungsdienste sichergestellt werden sollen.

(26)  Siehe insbesondere i) die thematische Studie im Auftrag des Expert Council on NGO Law der Konferenz der INGO des Europarates, „Using criminal law to restrict the work of NGOs supporting refugees and other migrants in Council of Europe member states“, Dezember 2019; ii) Lina Vosyliūtė und Carmine Conte, „Crackdown on NGOs and Volunteers helping refugees and other migrants“, ReSOMA, a. a. O.; Sergio Carrera, Lina Vosyliūtė, Stephanie Smialowski, Jennifer Allsopp und Gabriella Sanchez, „Update Study ‚Fit for purpose?‘ The Facilitation Directive and the criminalisation of humanitarian assistance to irregular migrants“, Studie für den EP-Petitionsausschuss (PETI), Europäisches Parlament, Dezember 2018; iii) Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA), „Fundamental Rights Considerations: NGO Ships Involved in Search and Rescue in the Mediterranean and Criminal Investigations“, Oktober 2018; iv) FRA, „2019 update — NGO ships involved in search and rescue in the Mediterranean and criminal investigations“, Juni 2019; v) „Punishing Compassion. Solidarity on trial in fortress Europe“, Amnesty International, März 2020.

(27)  REFIT-Bewertung des Rechtsrahmens der EU zur Bekämpfung der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt.

(28)  2018/2769(RSP).


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